Adventsgeschichte aus dem Maschinenbau: 4 Kerzen, 170 Menschen und ein Weihnachtswunder 2. Advent – Zwischen Hoffen und Bangen: Wie aus Zahlen Gesichter werden

Liebe Leserinnen und Leser,

In der letzten Woche habe ich erzählt, wie ein Anruf am ersten Adventssonntag alles verändert hat: ein familiengeführter Maschinenbauer, 170 Mitarbeitende, eine drohende Insolvenz und die Frage, ob es noch rechtzeitig einen Weg aus der Krise geben kann.

Heute geht die Geschichte weiter. Im zweiten Teil geht es um die Phase, in der sich entscheidet, ob aus einer Krise ein strukturiertes Vorgehen wird: aus Zahlen werden Gesichter, aus Szenarien werden Entscheidungen, aus Unsicherheit wird. im besten Fall, ein gemeinsamer Plan.

Ich wünsche allen einen ruhigen, zuversichtlichen zweiten Advent, mit dem Mut, genau hinzusehen, auch wenn die Lage unbequem ist, und mit der Kraft, aus Zahlen wieder Geschichten von Menschen zu machen.

Ihr Christian Neusser

2. Advent – Zwischen Hoffen und Bangen: Wie aus Zahlen Gesichter werden

In der Woche nach unserem ersten Treffen begann der eigentliche Alltag der Krise. Von außen sah es aus wie jede andere Dezemberwoche: grauer Himmel, volle Parkplätze, Weihnachtsbeleuchtung in der Innenstadt. Innen fühlte es sich an, als hätte jemand die Uhr beschleunigt.

Ich startete montags früh mit dem, was ich in solchen Situationen immer zuerst brauche: Klarheit. Zusammen mit meinem Team bei Phalanx zogen wir die Zahlen vollständig und ungefiltert auf den Tisch. Liquiditätsstatus, offene Posten, Banklinien, Auftragsbestand, Projektkosten, alles, was in den letzten Monaten aus dem Ruder gelaufen war.

Auf dem Bildschirm sah das Unternehmen zunächst aus wie viele andere Krisenfälle: rote Zahlen, verspätete Zahlungen, enge Linien. Doch während ich durch die Tabellen ging, sah ich innerlich etwas anderes: die Gesichter aus der Produktion, die Mitarbeiterin, die mich gebeten hatte, nach Weihnachten noch einen Arbeitsplatz zu sichern, und die Tochter des Inhabers, die nicht die „letzte Generation“ sein wollte.

Meine inneren Weihnachtselfen waren wieder da. Im Kopf stellte ich sie mir vor, wie sie über der Excel-Tabelle schwebten, mit hochgekrempelten Ärmeln, kleine Fähnchen neben die wichtigsten Positionen steckten und flüsterten:
„Hier entscheidet sich, wie viel Zeit ihr wirklich habt. Schau genau hin. Und dann entscheide.“

Am frühen Nachmittag saß ich mit Martin und seiner Tochter im Besprechungsraum. Vor uns ein ausgedruckter Liquiditätsplan, daneben Kaffee, der längst kalt geworden war.

„Ich sage es offen“, begann ich. „Wenn wir nichts tun, reicht die Liquidität nicht bis Ende Januar. Mit Sofortmaßnahmen können wir Zeit gewinnen, aber wir sprechen von Wochen, nicht von Monaten.

Martin lehnte sich zurück. Man sah ihm an, wie sehr ihn diese einfache, klare Aussage mehr traf als jede abstrakte Diskussion über Insolvenztatbestände.

„Was heißt das konkret?“, fragte er.

„Konkret“, antwortete ich, „heißt das: Wir müssen drei Dinge parallel tun. Erstens: sofortige Liquiditätssicherung, Zahlungsziele verhandeln, unnötige Ausgaben stoppen, Vorräte und Projekte durchgehen. Zweitens: ein belastbares Transformationsbild: Was bleibt, was muss sich ändern, wo liegt der Kern des zukünftigen Geschäfts? Drittens: ein strukturierter M&A-Prozess im Schnellformat, fokussiert auf wenige, aber passende Interessenten, die bereit sind, schnell zu entscheiden.“

Die Tochter schaute auf den Plan. „Und was ist mit uns als Familie?“, fragte sie leise. „Was bleibt für uns?“

Ich zögerte kurz. Es wäre leicht gewesen, auszuweichen. Aber in solchen Momenten braucht es Klarheit.

„Wenn wir ehrlich sind“, sagte ich, „müssen wir in zwei Dimensionen denken: Was braucht das Unternehmen und was braucht die Familie. Das Unternehmen braucht jetzt Kapital, industrielle Logik und Ruhe. Die Familie braucht einen Abschluss, der nicht im Insolvenzverfahren endet. Beides ist möglich, aber es verlangt, dass wir loslassen, bevor wir dazu gezwungen werden.“

Es wurde still. Ich sah, wie Martin den Blick senkte, die Hände ineinander verschränkte. Die unsichtbaren Elfen in meinem Kopf schrieben ein neues Stichwort an die Tafel: Loslassen.

Noch am selben Tag telefonierte ich mit der Hausbank. Eine Videokonferenz, nüchterne Gesichter, ein konzentrierter Blick in die Kamera.

„Wir sehen die Situation kritisch“, sagte der zuständige Betreuer. „Unsere Geduld ist endlich.“

„Das verstehe ich“, antwortete ich. „Darum melde ich mich jetzt mit einem konkreten Plan. Wir arbeiten an einem kurzfristigen M&A-Prozess, kombiniert mit einer klaren Sanierungslinie. Dafür brauchen wir zwei Dinge von Ihnen: erstens Transparenz darüber, was für Sie ein absolutes No-Go ist. Zweitens: eine schriftliche Bestätigung, dass Sie den Weg unterstützen, solange bestimmte Meilensteine eingehalten werden.“

Man hörte das typische Blättern von Akten im Hintergrund. Ich wusste, dass dieser Moment entscheidend war. Wenn die Bank innerlich schon „abgeschrieben“ hätte, wäre es sehr schwer geworden.

„Schicken Sie uns die Eckpunkte bis Mitte der Woche“, sagte er schließlich. „Dann schauen wir, ob wir intern dafür Rückendeckung bekommen. Aber wir werden keine zusätzlichen Mittel bereitstellen.“

„Das erwarte ich auch nicht“, sagte ich. „Mir reicht, wenn Sie nicht aktiv gegen einen geordneten Verkauf arbeiten.“

Nach dem Gespräch lehnte ich mich kurz zurück. Draußen wurde es dunkel. In meinem Kopf hängten die Weihnachtselfen eine Art unsichtbaren Zeitplans an die Wand:
Woche 1: Bank an Bord holen.
Woche 2: Investorengespräche starten.
Woche 3: Entscheidungen.
Woche 4: Abschluss – oder das Gegenteil.

Noch bevor die Woche zu Ende war, saß ich mit der Familie und zwei Bereichsleitern in einer erweiterten Runde. Ich bat darum, die Zahlen nicht nur technisch zu besprechen, sondern auch offen über die Wirkung auf die Menschen zu sprechen.

„Wenn wir die zweite Schicht im Bereich X temporär aussetzen, was heißt das?“, fragte ich.

Der Produktionsleiter antwortete ohne Umschweife. „Das heißt, dass wir im Zweifel Überstunden in anderen Bereichen brauchen und einige befristete Verträge nicht verlängern können. Das wird nicht schön.“

Die Tochter schaute ihn direkt an. „Und wenn wir es nicht tun?“

„Dann“, sagte er, „haben wir vielleicht in drei Monaten gar keine Schichten mehr.“

Man merkte, wie sich im Raum etwas verschob. Die abstrakte Ebene der Maßnahmen erhielt plötzlich Gewicht. Aus jeder Entscheidungszeile wurde ein Stück Wirklichkeit.

In dieser Sitzung passierte etwas, das ich im Nachhinein als Wendepunkt empfinde. Martin, der bis dahin eher defensiv war, holte tief Luft und sagte:
„Ich habe das Unternehmen immer als ‚meinen Laden‘ gesehen. Aber wenn ich ehrlich bin, gehört es seit Jahren auch den Menschen, die hier arbeiten. Und jetzt sind wir an einem Punkt, an dem ich entscheiden muss, ob ich an meinem Bild hängen bleibe, oder das Unternehmen in eine neue Hand gebe, damit es weiterleben kann.

Die Tochter legte ihm die Hand auf den Arm. „Es ist immer noch dein Werk, Papa. Aber vielleicht brauchen wir jetzt jemanden, der unser Werk in die nächste Phase führt.“

In meinem Kopf nickten die Elfen zufrieden. Einer von ihnen zog ein kleines Schild aus der Tasche, auf dem stand: „Die Story ist stärker als die Bilanz.“

Noch am selben Abend setzten wir die ersten Unterlagen für einen Teaser auf: eine präzise, aber ehrliche Darstellung des Unternehmens, der Produkte, der Marktposition und der Sondersituation. Kein Kosmetikprospekt, sondern ein realistisches Bild mit Chancen und Risiken. Ich wusste, dass wir dafür die richtigen Adressen brauchten: Investoren, die den Maschinenbau verstehen, industrielle Logik mitbringen und keine Angst vor Restrukturierung haben.

Die Tage vergingen schnell. Zwischen Erstgesprächen, Bankterminen, Excel-Sheets und internen Runden gab es Momente, in denen ich merkte, wie sehr die Anspannung die Menschen veränderte. Einige Mitarbeitende zogen sich zurück, andere wurden plötzlich ungewohnt direkt.

Bei einem Besuch in der Montage sprach mich ein Meister an.

„Herr Neusser“, sagte er, „ich habe gehört, dass Sie den Laden verkaufen wollen.“ Was heißt das für uns? Kommt dann einer, der nur die Filetstücke nimmt und den Rest zumacht?“

Ich sah ihn an und entschied mich wieder für Ehrlichkeit.

„Ich kann Ihnen heute nichts versprechen, was ich nicht halten kann“, sagte ich. „Aber ich kann Ihnen sagen, woran wir arbeiten: Wir versuchen, einen Käufer zu finden, der im Kern an das glaubt, was Sie hier jeden Tag leisten, und der bereit ist, gemeinsam mit Ihnen zu sanieren, statt nur abzuwickeln. Ob uns das gelingt, hängt auch davon ab, wie geschlossen das Unternehmen auftritt.“

Er schwieg kurz, dann nickte er. „Dann sagen Sie uns bitte früh Bescheid, wenn es ernst wird.“ Das Schlimmste ist, wenn wir aus der Zeitung erfahren, wie es weitergeht.“

Auf der Rückfahrt dachte ich darüber nach, wie dünn die Linie zwischen „Transaktion“ als technischem Begriff und dem, was sie für Menschen bedeutet, ist. Meine Weihnachtselfen hatten mittlerweile angefangen, kleine Verbindungen zu ziehen: von der Liquiditätsplanung zur Schichtplanung, von der Bankentscheidung zur Weihnachtsstimmung zuhause, von Verhandlungsterminen zu Kinderwünschen, die vielleicht doch erfüllt werden können, oder eben nicht.

Als der zweite Advent näher rückte, befanden wir uns in folgender Situation: Die Bank war vorsichtig, aber konstruktiv. Der Teaser war draußen; erste Interessenten hatten sich gemeldet, darunter zwei mit ernsthaftem Interesse. Intern gab es ein erstes, vorsichtiges Commitment der Führung, den Weg gemeinsam zu gehen, auch wenn noch niemand genau wusste, wie hart der Weg werden würde.

Am Abend des zweiten Adventssonntags zündete ich zuhause die zweite Kerze an. Die Flammen standen ruhig nebeneinander. In meinem Kopf sah ich zwei Bilder gleichzeitig: die Kerzen auf dem Tisch – und das Firmengelände im Dunkeln, mit vereinzelten Lichtern in den Hallen.

Zwischen Hoffen und Bangen hatten wir uns in den letzten Tagen ein kleines Stück nach vorne bewegt. Noch war nichts entschieden, noch war kein Vertrag unterschrieben, noch war keine Insolvenz vom Tisch. Aber aus anonymen Zahlen waren wieder Gesichter geworden. Und aus einem „Vielleicht ist alles bald vorbei“ wurde ein „Es könnte noch gut ausgehen, wenn wir gemeinsam durchhalten“.

Die zweite Kerze brannte.
Und tief in mir spürte ich: Die eigentliche Prüfung stand uns erst noch bevor.

agentur fenzl